Der Rödersdorfer Flügelaltar des Riemenschneiderschülers Hans Gottwald von Lohr

 

Der Rödersdorfer Flügelaltar

Ein weit mehr als nur regionale Bedeutung ausstrahlendes Kunstwerk besitzt das Rödersdorfer Gotteshaus in seinem Beweinungsaltar. Die zentrale Position des Figurenschreins nimmt dabei die um ihren Sohn trauernde Maria ein. Auf ihrem Schoß hält sie den Verblichenen am Nacken fest. Es mutet den Betrachter an. als wolle sie nicht wahrhaben, dass ihr einziger Sohn an den Qualen der Kreuzesmarter verstorben ist. Eindrucksvoll versucht die von Schmerz gezeichnete Mutter mit ihrer rechten Hand den leblosen Körper aufzurichten; aber das Haupt des Gemarterten fällt ohne jedes Lebenszeichen nach hinten zurück. Es erweckt den Anschein, als habe sie mit einem Tränentuch in der Linken das von so viel Leid gezeichnete Antlitz ihres Sohnes durch behutsames Abtupfen gesäubert. Aber auch ihr eigenes von Tränen gezeichnetes Antlitz trocknet sie damit. Die schräg gestellten, verweinten Augen Mariens unterstreichen dabei nachhaltig den eingegrabenen Schmerz, der ihr Innerstes aufgewühlt hat. Blutströme am Haupt und am Oberkörper der Jesufigur zeugen von den schmerzhaften Stachelwunden der Dornenkrone, die von den Häschern tief in das Haupt des Heilandes gedrückt wurde. Der muskulöse, mit heraustretenden Adern versehene rechte Arm gleitet dabei wie leblos nach unten. An den Handflächen, den Füßen und der rechten Oberkörperseite sind die ihm zugefügten Wundmale sehr nachhaltig sichtbar. Maria mit dem Leichnam Christi Die Beine des Herrn sind eingewinkelt, wobei das linke die Mariens Schoß Verdeckenden Gewandfalten zusammenschiebt. Nachhaltig zeugt diese gespannte und aufgewühlte Faltenknitterung auf den Ernst des grausamen Geschehens hin. Der nur von einem Lendentuch bekleidete tote Christuskörper mit dem gespannten Brustkorb ist anatomisch meisterhaft gebildet. Man kann dieses Vesperbild von allen Seiten betrachten, es gibt keinen toten Punkt, ja von oben gesehen kommen sogar die leidvollen Gesichtszüge von Mutter und Sohn am vortrefflichsten zur Geltung. Bewundernswert ist, wie der Bildschnitzer dieser eher in die Höhe weisenden Figurengruppe im Figurenschrein gerecht werden konnte! Das über den Hals der Mutter quer gelegte Kopftuch sowie das darüber gelegte Obergewand sind als Ganzes empfunden, zeugen daher nachhaltig von der Einheit dieser leid ausstrahlenden Gruppe, die gegenüber den beiden anderen Schreinheiligen auf hoch geschichteten Steinen Platz gefunden hat. Der Schreinhintergrund nimmt Bezug auf diese Beweinung; er wird von einem gemalten lateinischen Kreuz gebildet, an dessen Querbalken Marterinstrumente erkennbar sind. Die dunkle Bläue des Schreinhintergrundes, gleichzusetzen mit der des Firmamentes, zeigt nachhaltig den Ernst dieser Abendstunde an. Rechts von dieser Beweinungsgruppe steht der hl. Bartholomäus.

Heiliger Bartholomäus aus dem Beweinungsaltar von RödersdorfSein vollbärtiges Gesicht mit dem dicht gekräuselten Haarschopf kann über ein müdes sentimental anmutendes Antlitz nicht hinwegtäuschen. Bartholomäus strahlt aber eine kaum zu übertreffende Milde aus, die diesem Blutzeugen Christi sehr zum Vorteil gereicht. Selbstbewusst hält der Apostel, der einmal bis nach Indien missionieren wird, ein Messer, Zeichen eines Martyriums, in der Hand, mit welchem man ihm die eigene Haut abziehen wird. Mit der Rechten hält er ein Buch. Schwungvolle Schüsselfalten des Gewandendes münden bei der das Buch haltenden Hand über deren Unterarm gelegt, ein. Ihren Ausgangspunkt haben diese Gewandfalten am linken Unterarm. Interessant ist die Kleiderbrosche, ein gleichschenkliges Tatzenkreuz, das den Umhang am Oberkörper zusammenhält.

Heiliger Bischof aus dem Beweinungsaltar von RödersdorfGegenüber Bartholomäus steht ein bartloser hl. Bischof, aus dessen Mitra geradezu das überaus fein gelockte Haupthaar hervorquillt. Ein aufgeschlagenes Buch, das er mit seiner Rechten an den Leib drückt, kann als zu allgemeines Attribut seine Identität nicht preisgeben. In der anderen Hand hält er seinen würdevollen Bischofsstab fest, der in einer kunstvoll mit filigranem Laubwerk besetzten Krümmung endet. Sein Mantel umschließt in Hüfthöhe seinen Leib, wobei schön ausgewogen herabhängende Falten diesen umschließen. Zahlreiche Fingerringe, ein Stehkragen sowie bis zum Gelenk reichende Fingerhandschuhe verleihen dem geistlichen Würdenträger majestätischen Glanz, welcher auch in der Erhabenheit des Gesichtsausdruckes mit dem kleinen geschlossenen Mund und der glatt rasierten Kinnpartie zur Geltung kommt. Das tiefsinnige, noch jugendlich anmutende Gesicht des Bischofs charakterisiert ihn vorteilhaft.

 

Heilige Ursula, Heilige Lucia aus dem rechten Flügel des Rödersdorfer AltarwerkesReliefartig zeigt der rechte Flügel die hl. Ursula mit einem Pfeil und die hl. Lucia mit einem Schwert und der sie weiterhin kennzeichnenden Halswunde. Lucia wurde dabei vom Bildschnitzer leicht in den Vordergrund gestellt. Aus ihrer Legende sei folgendes mitgeteilt: Ihr Vermögen den Armen opfernd, wird sie von ihrem Verlobten, den sie nicht liebt, der Christenverfolgung unter Diokletian überantwortet. Ein Versuch, sie zunächst zu verbrennen, misslingt, weshalb man ihr ein Schwert in die Kehle stieß. Mir dem in der rechten Hand befindlichen Gewandzipfel, der so zum Ausgangspunkt beschwingt leicht nach unten fallenden Faltenwurfes wird. versucht sie, die blutende Wunde am Hals zu stillen. Die hl. Ursula, die sich an Lucias Schulter anschmiegt, hält einen Pfeil, mit dem die aus Britannien stammende Königstochter auf der Rückkehr von einer Pilgerreise in Köln von Hunnen getötet wird, in den Händen.  Beide gekrönte Frauen ähneln sich wie Schwestern mit ihrem lang ringelnden weichen Haar. das sanft über die Schultern gleitet. Ein kleiner Mund, ein etwas breit angelegtes liebevolles Gesicht mit mandelförmigen Augen sowie ein Unterkinn unterstreichen nachhaltig noch ihre Ähnlichkeit. Ausgewogene Schüsselfalten laufen S-förmig über die Leiber beinahe nahtlos ineinander über. Der linke Flügel zeigt wiederum im Relief die hl. Anna selbdritt. Hinter deren linker Schulter stellte der Bildschnitzer die hl. Katharina dar, die ihr tot bringendes Marterinstrument an der Parierstange fest hält, während die linke Hand sich am Schwertknauf leicht abstützt. Ihr Gesicht ist ebenfalls etwas breit angelegt, wie bei denen des anderen Flügels. Auch fällt ihr Haar sanft über ihre Schultern gleitend lang herunter. Anna selbdritt hält auf ihrer Rechten ihr Enkelkind, ein pausbackiges lebhaftes Kleinstkind. Trotz Kopftuches ist es dem Bildschnitzer nicht so recht gelungen, eine betagte Großmutter in ihr zu verkörpern. Sie trägt wie die anderen heiligen Frauen jugendliche Züge. Die schönen Schüsselfalten der Anna umschließen im weiten Bogen ihren Leib. Sie fließen ausgewogen von der Hand, mit welcher sie ihr Enkelkind hält, zu der anderen, auf der mehr symbolischen Charakter verkörpernd, ihre Tochter Maria sitzt. In betender Pose hat diese kleine bezaubernde Figur auf dem Arm ihrer Mutter Platz genommen. Drei Generationen verkörpern in dieser Gestaltung schönstes harmonisches Familienglück. Auf der gemalten Rückseite des linken Flügels kann man nur noch schemenhaft eine rot gewandete Barbara mit dem Kelch in den Händen und eine grün gewandete Dorothea erkennen. In den Händen hält Dorothea einen Korb mit Blumen und Äpfeln, den sie von dem Jesuskind gereicht bekommt. Die bei ihrer Hinrichtung von ihr geäußerte Verheißung, dass in ihres Herrn Garten ewiglich Rosen und Äpfel gedeihen werden, erfüllte sich somit. Als Nothelferin, verehrt bei Armut, falscher Anschuldigung, bei Geburts- und Todesnöten, gehört sie zu den beliebtesten Heiligen. Eigenartigerweise ist dieser herausragende Altar der Kunstgeschichtsforschung entgangen, obwohl Paul Lehfeldt in seinem Inventarwerk von 1891 eindringlich darauf hinweist, indem er schreibt:. „Die Gruppe der Maria mit dem Leichnam (90 cm hoch) ist herrlich; das Gesicht der Gottesmutter trotz der etwas übertriebenen Augenstellung von edler Schönheit, besonders an Mund und Kinn und ihr Kopftuch und Mantel von großem, freien Faltenwurf, der nackte Körper Christi von hervorragender Kenntnis zeugend. Ein heiliger Bischof (90 cm hoch) ist ebenfalls ein ausgezeichnetes Schnitzwerk, der heilige Bartholomäus (87 cm hoch) nicht so trefflich, aber immerhin ganz gut. Die Flügel-Figuren (85 cm hoch) hingegen sind schlecht, mit breiten, flachen und runden Gesichtern von törichtem Ausdruck und langweiligem Faltenwurf...". Dieser Aussage P. Lehfeldts kann man in ihrer positiven Schilderung nur beipflichten. Tatsache ist auch. dass die Flügelheiligen nicht die Qualität der Schreinfiguren besitzen; sie als „schlecht" einzustufen ist allerdings verfehlt! Gerade diese Flügelfiguren sind es, die zu einem Vergleich mit den Flügelfiguren zweier Altäre von Friesau bei Lobenstein herausfordern und schließlich übereinstimmendes Formengut zutage brachten. Hier wie dort stehen die Heiligen auf Gras- bzw. Steinsockeln. Die im Relief etwas breit ausfallenden Gesichtszüge der Katharina und der Dorothea vom Friesauer Christopherusaltar, sowie der Margarethe aus dem anderen Flügelaltar besitzen das charakteristische Doppelkinn, den kleinen Mund, die mandelförmigen Augen, das lang herabwallende weiche Haar, sowie die eigenwillig an Laubmaßwerk erinnernden Kronen. Heilige Katharina, Heilige Dorothea aus dem linken Flügel des Friesauer Christopherusaltars All diese Merkmale sind vollkommen mit jeden der weiblichen Flügelfiguren aus Rödersdorf identisch. Auch die meisterhaft gestalteten Schüsselfalten der Dorothea von Friesau und der Rödersdorfer Lucia sind eine gelungene Wiederholung; sie stimmen beinahe nahtlos überein. Diese Besonderheiten lassen daher auf ein und dieselbe Bildschnitzerwerkstatt schließen. Allerdings soll nicht verschwiegen werden, dass die künstlerische Bedeutung zu Gunsten des Rödersdorfer Flügelaltars ausfällt. Die beiden Friesauer Flügelaltäre gelten als Werk des in Saalfeld ansässigen Bildschnitzers Hans Gottwalt von Lohr; sie sind um 1515 entstanden.2). H. Gottwalt wurde um 1475 in Lohr am Main in Unterfranken geboren. 1501 wird er als Schüler von Tilman Riemenschneider im Würzburger Lehrjungenverzeichnis der Lukasbrüderschaft erwähnt. Seit 1503 ist er in Saalfeld nachweisbar. Zunächst besaß er keine eigene Werkstatt, er war im Unternehmerbetrieb von Valentin Lendenstreich beschäftigt. Nach dessen Tode (1506) besaß er bald eine eigene Werkstatt. Er starb im Jahre 1543 in Saalfeld. Werke seiner Hand, die in einer Auswahl der wichtigsten Stationen erwähnt werden sollen, befinden sich unter anderem in Münchenbermsdorf (1505, Flügelaltar von V. Lendenstreich signiert), Saalfeld (um 1505 lebensgroße Figur Johannis d. Täufers), Meiningen (um 1505 einzelne Heiligenfiguren), Reichenbach bei Oberloquitz (um 1506, ein Annenaltar), Oberwellenborn (um 1506 ein Flügelaltar), Keilhau, jetzt Angermuseum Erfurt (1507, ein Flügelaltar), Probstzella, jetzt Thür. Museum Eisenach (um 1508, ein Altarschrein), Auma (um 1508 Katharinenfigur), Neusitz bei Großkochberg (um 1510 ein Flügelaltar), Friesau (um 1515, zwei Flügelaltäre), Graba (um 1515/18 ein Flügelaltar). Dieser eindrucksvollen Aufzählung ist aufgrund von Stilmerkmalen eindeutig der Rödersdorfer Beweinungsaltar hinzuzufügen. Dr. Gerhard Werner aus Saalfeld, der 1988 eine Dissertation über den Bildschnitzer Hans Gottwalt von Lohr verfasste, hat dieses Werk aus Rödersdorf dort allerdings nicht mit aufgeführt. Er teilte dem Verfasser auf gezielte Anfrage, ob er einer Zuordnung der Rödersdorfer Altarwerkes an H. Gottwalt zustimmen würde, brieflich mit, dass auch nach seiner Meinung „der Altar . . . zweifellos in der Werkstatt Gottwalts entstanden" ist. Wir folgen hier der Charakteristik des Bildschnitzers, die G. Werner in einer Untersuchung über den Grabaer Flügelaltar veröffentlichte, welche unserer Betrachtung sehr dienlich ist und uns auch das Rödersdorfer Altarwerk näher bringt: „Hans Gottwalt hat während seiner gesamten Schaffensperiode, die seit seiner Ankunft in Saalfeld 1502 knapp 20 Jahre währte und dadurch die Ereignisse de r Reformation jäh abbrach, stets in der Art seines großen Lehrmeisters und Vorbildes Riemenschneider gearbeitet und brachte die der fränkischen Kunst eigene Figurendarstellung voller Anmut und Ausdruckskraft nach Thüringen. Sein persönlicher Stil war keine epigonenhafte Nachahmung fränkischer Eigenart, sondern er verband ihn mit traditionellen und eigenständigen thüringischen Gestaltungs- und Kompositionselementen.

Im Laufe seines Schaffens entfernte er sich allerdings zunehmend vom Stil seines Vorbildes Riemenschneider, ohne ihn aber ganz. zu verlieren". An anderer Stelle der Publikation G. Werners heißt es: „Er war ein braver Altarlieferant, schuf jedoch auch mit der Figur des Johannes des Täufers in der Saalfelder Stadtkirche, der Anna selbdritt in Reichenbach bei Oberloquitz und der Katharinenfigur in Auma künstlerisch herausragende Skulpturen, die zu den besten Erzeugnissen der thüringischen Bildschnitzerkunst gehören". Gottwalts Rödersdorfer Flügelaltar gehört zweifelsohne zum Besten, was die ostthüringisch/vogtländische Sakrallandschaft bieten kann. Ähnlich wie ein anderer Riemenschneiderschüler, der um 1472 geborene Peter Bauer aus Zwickau, hat auch Hans Gottwalt eher zurückhaltende, schwermütig verträumte Heilige geschaffen, die eine stille Verhaltenheit ausdrücken. Mit größter Gefühlstiefe, mit einem ausgeprägten Empfinden für Schmerz und Leid hat Hans Gottwalt von Lohr mit diesem Flügelaltar, zumindest mit dem Vesperbild, Außergewöhnliches geschaffen, was den Konfessionswechsel sowie die große Zeitdauer ungemindert in der Bewertung überdauert hat, ohne aber seinen großen Lehrmeister zu kopieren. Aus Riemenschneiderscher ernster Hingabe wird bei H. Gottwalt eher ein liebenswertes verträumtes Sakralbild. Es ist eine ganz eigene Komposition, die ihren gebührenden Platz über der Rödersdorfer Altarmensa gefunden hat.

Günter Hummel